Professor Dr. Martin Schwab

Geistesgestört? Unfähig, einen Prozeß zu führen? Nie im Leben! Anmerkung zu LG Göttingen, Beschluß vom 17.12.2009 – 2 O 985/04 sowie 2 O 1097/08

Eine Patientin klagt über schwere Zahnschmerzen. Sie läßt sich von zahlreichen Zahnärzten behandeln. Sie fühlt sich von ihnen allen fehlerhaft behandelt und verklagt mehrere von ihnen auf Schadensersatz. Das Gericht schöpft Verdacht, die Klägerin könnte an einer Störung ihrer Geistestätigkeit leiden und damit prozeßunfähig sein. Es ordnet daher an, daß die Klägerin psychiatrisch untersucht werden soll – obwohl der Inhalt der Akten und das Ergebnis ihrer Anhörung glasklar dafür sprechen, daß die Klägerin im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist.

Was ist passiert? Die Klägerin leidet seit einer Zahnbehandlung an Zahnschmerzen, die sich zunächst mit schmerzfreien Phasen abwechselten, insgesamt aber zunahmen und sich immer mehr auch auf andere Zähne und das gesamte Gebiß ausdehnten. Seit 2005 leidet sie ununterbrochen unter Zahnschmerzen. Von 2006 bis 2009 war sie vollständig berufsunfähig. Von 2004 bis 2006 nahm sie begleitende Unterstützung bei einem Psychotherapeuten in Anspruch. Dieser bescheinigte in einer Stellungnahme im Rahmen ihres Antrags auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente, weder im Rahmen seiner Untersuchung noch im Laufe der Therapie Hinweise auf eine psychische Ursache ihrer Schmerzen festgestellt zu haben. Vielmehr seien umgekehrt die depressiven Verstimmungen, unter denen die Klägerin litt, durch Zahnschmerzen infolge von Zahnerkrankungen ausgelöst worden.

Seit 2004 führt die Klägerin einen Prozeß wegen zahnärztlicher Behandlungsfehler vor dem LG Göttingen gegen mehrere behandelnde Zahnärzte, von denen sie Schadensersatz begehrt. 2005 erhob sie daneben – insoweit für die hier vorliegende Entscheidung ohne Belang – Klage auf Einsichtnahme in ihre Patientenakten gegen vier Zahnärzte. Ferner führt sie seit 2008 ein Verfahren gegen vier weitere Zahnärzte vor derselben Kammer am LG Göttingen, in dem es abermals um Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung geht. In dem zuletzt genannten Verfahren beantragte eine Anwältin der beklagten Zahnärzte Anfang März 2009 die Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens. Jene Anwältin stützte ihren Antrag auf die Behauptung, es lägen Hinweise dafür vor, daß die Klägerin an einer psychischen Erkrankung leide und daß die Zahnschmerzen der Klägerin im Jahr 2004 psychische Ursachen gehabt hätten. Das Gericht rief die Anwältin der Klägerin an, teilte mit, die psychiatrische Begutachtung der Prozeßfähigkeit der Klägerin zu planen (d. h. auf diesem Wege der Frage nachzugehen, ob sie von ihrem Geisteszustand her in der Lage sei, einen Rechtsstreit vor Gericht zu führen), und erkundigte sich, ob seitens der Klägerin die persönliche Anhörung hierzu für notwendig erachtet werde. Wenige Tage später forderte das Gericht die Anwältin der Klägerin schriftlich auf, zum Antrag der Beklagten auf psychologische Begutachtung der Klägerin Stellung zu nehmen. Das Gericht wies in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Klägerin viele Zahnärzte verklagt habe. Es äußerte erneut, daß es sich auch eine psychiatrische Begutachtung der Klägerin vorbehalte, und kündigte an, die Klägerin persönlich zur Frage ihrer Prozeßfähigkeit anzuhören. Die Klägerin trat dem Antrag der beklagten Zahnärzte entgegen. Sie verwies darauf, daß der Antrag der Beklagten ausschließlich auf Behauptungen gestützt sei, die durch nichts belegt seien. Sie widersprach ferner dem Ansinnen des Gerichts, ihre Prozeßfähigkeit psychiatrisch begutachten zu lassen, und erwiderte, allein die Tatsache, daß sie viele Zahnärzte verklagt habe, gebe keinen Anlaß für Zweifel an ihrer Prozeßfähigkeit. Die Anhörung der Klägerin fand am 12.11.2009 statt und wurde protokolliert. Nach Ansicht der Klägerin gab jenes Protokoll freilich wesentliche Aussagen, welche sie im Rahmen der Anhörung gemacht habe, nicht wieder – zum Beispiel ihre Antwort auf die Frage des Gerichts, warum sie so viele Zahnärzte aufgesucht habe. Die Klägerin stellte daher den Antrag, das Protokoll ihrer Anhörung zu berichtigen.

Wie hat das Gericht entschieden? Das LG Göttingen lehnte den Antrag auf Protokollberichtigung am 17.12.2009 ab. Am gleichen Tag erließ das Gericht die hier besprochene Entscheidung – nämlich den Beweisbeschluß über die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens über die Frage der Prozeßfähigkeit der Klägerin im Rahmen des seit 2004 und des seit 2008 anhängigen Verfahrens. Das Gericht nennt in diesem Beschluß folgende Anhaltspunkte für die Zweifel an der Prozeßfähigkeit der Klägerin: Die Klägerin habe ihre Zahnärzte im Zeitraum von 2003 bis 2005 häufig gewechselt und sei in diesem Zeitraum von insgesamt 30 unterschiedlichen Zahnärzten behandelt worden. Eine psychotherapeutische Stellungnahme vom 6.12.2006 (nämlich jene, welche die Klägerin zur Begründung ihres Antrags auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente vorgelegt hatte, siehe oben) habe ebenso konkrete Anhaltspunkte für die Möglichkeit einer psychosomatischen Erkrankung zutage gefördert. Die Klägerin habe schließlich seit Mai 2003 starke Schmerzmittel genommen und 2004 einen Nervenzusammenbruch erlitten. Dies alles stelle in Verbindung mit dem häufigen Wechsel von Zahnärzten und dem zweimaligen Wechsel des Rechtsanwalts ein Indiz dafür dar, daß die Klägerin an einer Erkrankung leide, welche nur durch ein Sachverständigengutachten geklärt werden könne. Ein zahnärztliches Nachgutachten vom 29.12.2006 habe außerdem ergeben, daß eine sog. Okklusionsneurose oder eine psychosomatische Schmerzkrankheit eine echte psychische Erkrankung hervorrufen könnten. Dieses Nachgutachten war im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens angefertigt worden, welches die Klägerin angestrengt hatte.

Diese Darstellung rügte die Klägerin mit Schriftsatz vom 14.1.2010 und verlangte eine geänderte und ergänzte Darstellung des Sachverhalts im Beweisbeschluß. Am 18.1.2010 wies das Gericht diesen Antrag zurück. Auch der von der Klägerin gestellte Befangenheitsantrag gegen sämtliche Richter der 2. Kammer des LG Göttingen wurde mit Beschluß vom 2.3.2010 zurückgewiesen. Hiergegen legte die Klägerin beim OLG Braunschweig Beschwerde ein, die mit Beschluß vom 29.7.2011 ebenfalls zurückgewiesen wurde.

Warum handelt es sich um eine Fehlentscheidung? Das Problematische an dem hier besprochenen Beweisbeschluß ist, daß das Gericht aus dem Inhalt der Gerichtsakten völlig falsche Schlüsse gezogen hat. Bevor wir uns aber der Frage nähern, ob es sich bei diesem Beweisbeschluß um eine Fehlentscheidung handelt, müssen wir eines festhalten: Wir haben es nicht mit einem Urteil in der Sache zu tun. Wir haben es nicht damit zu tun, daß das Gericht die Ansprüche der Klägerin aus irgendwelchen Gründen zu Unrecht zugesprochen oder zu Unrecht aberkannt hat. Der Gegenstand der hier besprochenen Entscheidung ist ein ganz anderer:

  1. Es geht nämlich darum, daß das Gericht sich darüber klar werden wollte, ob die Klägerin überhaupt in der Lage war, den Prozeß selbständig zu führen. Diese sogenannte Prozeßfähigkeit ist Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage; das Gericht hat sie in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (§ 56 Abs. 1 ZPO)[1]. Im hier gegebenen Fall hielt das Gericht es für möglich, daß die Klägerin nach § 52 ZPO i. V. m. § 104 Nr. 2 BGB nicht prozeßfähig war. Es hegte nämlich den Verdacht, die Klägerin leide womöglich an einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit. An diesem Punkt setzt nun die juristische Bewertung des Beschlusses des LG Göttingen an: Zu fragen ist, ob das Gericht sich zu Recht dazu entschlossen hat, die Prozeßfähigkeit der Klägerin durch ein sachverständiges Gutachten überprüfen zu lassen.
  1. Man ist nun geneigt zu fragen, was denn daran so schlimm sein könne, daß das Gericht zu diesem Zweck das Gutachten eines Sachverständigen einholen wolle – das Gericht habe doch nun einmal eine Fürsorgepflicht gegenüber den Prozeßparteien. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Denn mit dem „schriftlichen Sachverständigengutachten über die Frage der Prozeßfähigkeit der Klägerin“ ist nichts anderes gemeint, als daß die Klägerin sich nach dem Willen des Gerichts einer psychiatrischen Begutachtung unterziehen sollte. Wenn aber das Gericht anordnet, daß jemand, der an einem Gerichtsverfahren beteiligt ist, sich einer derartigen Begutachtung unterziehen soll, stellt dies einen Eingriff in die Grundrechte dieser Prozeßpartei dar. Das gilt besonders in jenen Verfahren, in denen das Gericht diese Anordnung mit Rechtszwang durchsetzen kann[2]. Eine solche Möglichkeit hat das Gericht zwar in einem regulären Zivilprozeß nicht; denn eine Partei ist nicht verpflichtet, sich zur Feststellung ihrer Prozeßfähigkeit einer sachverständigen Begutachtung zu unterziehen[3]. Doch bedeutet auch die rechtlich nicht erzwingbare Anordnung des Gerichts, daß eine Prozeßpartei sich einer psychiatrischen Begutachtung unterziehen muß, einen Grundrechtseingriff[4]. Die Gegenansicht, die hier einen derartigen Eingriff verneint[5], überzeugt nicht und darf aus heutiger Sicht als durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[6 ] als überholt angesehen werden. Eine solche Anordnung bedeutet nämlich, daß die Partei, die ihr nicht Folge leistet, den Beweis ihrer Prozeßfähigkeit schuldig bleibt. Ist (wie im hier gegebenen Fall) die Klägerpartei betroffen und verweigert sie eine psychiatrische Begutachtung, so riskiert sie, daß ihre Klage als unzulässig abgewiesen wird. Die Klägerpartei hat dann die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder sie unterzieht sich einer für sie belastenden psychiatrischen Begutachtung oder sie verliert den Prozeß. Wie das OLG Rostock überzeugend feststellt, kann eine derartige Begutachtung „die Würde der betroffenen Person berühren“ [7]. Die Einsicht, daß allein schon die Anordnung der psychiatrischen Begutachtung einen Grundrechtseingriff darstellt, hat handfeste praktische Konsequenzen: Die psychiatrische Begutachtung darf nur angeordnet werden, wenn ernsthafte Zweifel an der Prozeßfähigkeit bestehen[8]. Und das Gericht, das eine solche Anordnung trifft, muß diese Anordnung begründen und dabei darlegen, worauf es diese Zweifel stützt[9]. Das Gericht muß die betroffene Prozeßpartei mindestens einmal persönlich anhören, bevor es die Prozeßunfähigkeit feststellt[10] und bevor es die psychiatrische Begutachtung anordnet[11]. Die Anhörung dient dazu, daß das Gericht sich vergewissert, ob die Anhaltspunkte, auf die es die ernsthaften Zweifel zu stützen gedenkt, tatsächlich vorliegen. Sie dient, sofern es um eine bevorstehende psychiatrische Begutachtung geht, auch dazu, daß das Gericht sich vergewissert, ob die verbliebenen Zweifel tatsächlich von ausreichendem Gewicht sind, um eine solche Anordnung zu rechtfertigen. Die Notwendigkeit, die betroffene Partei persönlich anzuhören, besteht freilich sogar dann noch, wenn ein psychiatrisches Gutachten bereits eingeholt wurde[12]. Das Gericht ist einerseits verpflichtet, medizinischen Sachverstand zu Rate zu ziehen, wenn es die Zweifel an der Prozeßfähigkeit einer Partei anders nicht auszuräumen vermag[13]. Es darf andererseits keine psychiatrische Begutachtung anordnen, wenn „nach dem Inhalt der Akten, dem bisher angestellten Ergebnis der Ermittlungen und dem Ergebnis der Anhörung des Betroffenen keinerlei Anhalt für die Annahme besteht, er leide an einer psychischen Krankheit“[14].
  1. Zwar gesteht der Bundesgerichtshof den Instanzgerichten bei der Feststellung, ob ernsthafte Zweifel an der Prozeßfähigkeit einer Partei bestehen, einen weiten Beurteilungsspielraum zu[15]. Indes: Selbst wenn man diesen Beurteilungsspielraum auch dem LG Göttingen im vorliegenden Fall zubilligt, ist das Gericht den rechtlichen Anforderungen, die an die Darlegung eben dieser ernsthaften Zweifel zu stellen sind, nicht gerecht geworden. Es hat zwar die Klägerin persönlich angehört und in seinem Beweisbeschluß die Gründe benannt, auf die es die Zweifel an der Prozeßfähigkeit der Klägerin stützt. Jedoch erweisen sich die vom Gericht aufgeführten Anhaltspunkte als rechtlich nicht tragfähig und stehen teilweise sogar im Widerspruch zur Aktenlage.

a) Nicht haltbar – auch nicht unter Berücksichtigung eines weiten Beurteilungsspielraums – ist es, allein schon aus der Tatsache, daß die Klägerin viele Zahnärzte verklagt hat, auf eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit zu schließen. Mit Recht lehnen es die Gerichte ansonsten ab, aus der Tatsache, daß jemand viele verschiedene Prozesse führt, auch nur einen Anhaltspunkt für eine solche Störung abzuleiten [16]. Nichts anderes gilt, wenn wie hier in zwei Verfahren viele verschiedene Personen verklagt werden.

b) Freilich ist dem LG Göttingen zuzugeben, daß es sich nicht damit begnügt, auf die Vielzahl der verklagten Zahnärzte zu verweisen. Es hebt vielmehr hervor, daß der Klägerin seit 2003 ununterbrochen Schmerzmittel, teilweise sogar Opiate verabreicht wurden und daß sie sich bis einschließlich 2006 in psychotherapeutischer Behandlung befunden habe. Alle diese Hinweise erweisen sich indes bei näherem Hinsehen als haltlos:

– Der Beschluß, durch den das LG Göttingen die psychiatrische Begutachtung der Klägerin anordnete, erging am 17.12.2009. Die Klägerin hatte aber bei ihrer Anhörung, wie aus dem dazu gefertigten Protokoll hervorgeht, angegeben, daß sie seit Anfang 2009 überhaupt keine Schmerzmittel mehr bekommt. Das Gericht läßt jede Reflexion darüber vermissen, wie eine Medikation, die seit fast einem Jahr abgesetzt wurde, aktuell immer noch die Annahme soll rechtfertigen können, die Klägerin könne an einer Störung ihrer Geistestätigkeit leiden. Für die Beurteilung, ob eine Partei prozeßfähig ist oder nicht – bzw. hier: ob die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens erforderlich ist oder nicht –, kommt es nämlich nicht auf irgendeinen Zeitpunkt in der Vergangenheit an. Maßgeblich ist vielmehr der Zeitpunkt, in dem das Gericht über die Frage der Prozeßfähigkeit bzw. über die Frage der Notwendigkeit eines solchen Gutachtens entscheidet.

– Noch fragwürdiger ist es, aus der Tatsache, daß die Klägerin sich bis 2006 in psychotherapeutischer Behandlung befand, auch nur auf die Möglichkeit einer psychischen Erkrankung zu schließen. Zum einen kann die Entscheidung, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, auf ganz unterschiedlichen Ursachen beruhen. Die Tatsache einer solchen Behandlung besagt also für sich allein überhaupt nichts. Erst die dabei erhobenen Befunde mögen Aufschluß darüber geben, ob eine Störung der Geistestätigkeit vorliegt (siehe dazu noch unten c). Zum anderen fragt sich, wie eine psychotherapeutische Behandlung, die 2006 abgeschlossen wurde, auch nur ansatzweise die Befürchtung rechtfertigen kann, die Klägerin befinde sich Ende 2009 in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit. In der Rechtsprechung sind Versuche, einer Prozeßpartei auf der Grundlage von veralteten Unterlagen und Befunden eine psychiatrische Begutachtung zuzumuten, mit Recht zurückgewiesen worden[17].

c) Um seine Zweifel an der Prozeßfähigkeit der Klägerin zu untermauern, verweist das Gericht auf zwei Gutachten: auf eine psychotherapeutische Stellungnahme des Therapeuten, bei dem die Klägerin von 2004 bis 2006 in Behandlung war, und auf ein zahnärztliches Nachgutachten im selbständigen Beweissicherungsverfahren. Beide Gutachten datieren aus dem Jahr 2006. Und keines der beiden Gutachten rechtfertigt auch nur im entferntesten die Annahme, die Klägerin könnte an einer krankhaften Störung ihrer Geistestätigkeit leiden:

– Das zahnärztliche Nachgutachten klassifiziert die „Patienten, die an einer dysfunktionsbedingten Erkrankung des Kauorgans leiden“, in vier Gruppen und führt dazu, soweit hier von Interesse, aus: „Gruppe 3: Psychische Erkrankung. Bei dieser Patientengruppe liegt eine echte psychische Erkrankung zugrunde. Sie leiden entweder an einer Okklusionsneurose oder an einer psychosomatischen Schmerzkrankheit. Dieser Gruppe können etwa 7% der Patienten zugeteilt werden.“ Diese Ausführungen beziehen sich also mit keinem Wort auf die Klägerin in Person, sondern geben eine rein statistische Größe wieder. Indem das Gericht sich für seinen Beweisbeschluß auf diese Passage des zahnärztlichen Gutachtens stützt, will es dem Leser, salopp gesprochen, folgendes sagen: „7% aller Patienten sind nicht ganz dicht und bilden sich deshalb die Schmerzen bloß ein. Vielleicht ist die Klägerin auch eine von denen.“ Daß man auf dieses Fundament keine Anordnung der psychiatrischen Begutachtung stützen kann, liegt auf der Hand: Ein Gericht, das ernsthafte Zweifel an der Prozeßfähigkeit einer Prozeßpartei hegt, muß sich mit der individuellen Persönlichkeit dieser Partei auseinandersetzen. Es fällt an dieser Stelle übrigens auf, daß das Gericht den Satz, mit dem es das zahnärztliche Nachgutachten heranzieht, praktisch wörtlich aus einem Schriftsatz der Anwältin eines der beklagten Zahnärzte übernommen hat.

– Nun zieht das Gericht außerdem die Stellungnahme des behandelnden Therapeuten heran. Das Gericht versucht also im Ansatz durchaus, die von jenem Therapeuten erhobenen Befunde auszuwerten. Das LG Göttingen möchte aus jener Stellungnahme „konkrete Anhaltspunkte für die Möglichkeit einer psychosomatischen Erkrankung“ ableiten. In der besagten Stellungnahme steht jedoch das glatte Gegenteil: In der Exploration und im gesamten Therapiezeitraum habe sich „keinerlei Hinweis ergeben, daß die geschilderten Zahnerkrankungen und die damit verbundenen Schmerzen auf psychische oder psychosoziale Störungen oder Konflikte auf einem biographischen Hintergrund im Sinne einer neurotischen oder psychosomatischen Bedingungskonstellation zurückzuführen ist“. In der Schlußbemerkung wird sodann hervorgehoben, daß die psychische Situation der Klägerin „eindeutig die Folge der organisch bedingten Zahnerkrankung und der damit verbundenen Schmerzen ist, es keinerlei emotionale, psychische, psychosoziale oder psychosomatische Konflikte und Belastungen gibt, die darauf hinweisen, daß ihre Symptome durch sie bedingt sind.“ Anders gewendet: Die Stellungnahme des Therapeuten ergibt keine Anhaltspunkte für die Annahme einer psychosomatischen Erkrankung und eine psychische Ursache ihrer Zahnschmerzen. Der Therapeut diagnostizierte bei der Klägerin vielmehr eine „reaktive Depression“. Die Tatsache, daß die Klägerin begleitende Unterstützung durch den behandelnden Therapeuten in Anspruch nahm, hatte ihre Ursache darin, daß die Klägerin unter ihrer Situation litt – nämlich seit geraumer Zeit unter starken Zahnschmerzen, unter den hiermit verbundenen sozialen Verlusten sowie darunter, daß sie ihrem Beruf nur noch eingeschränkt nachgehen konnte und hierdurch zunehmend auch ihre persönliche Existenz auf dem Spiel stand. Diese Stellungnahme des behandelnden Therapeuten durfte unter keinen Umständen für die Annahme herangezogen werden, die Klägerin leide vielleicht unter einer krankhaften Störung ihrer Geistestätigkeit. Mit einer solchen Störung haben die nachvollziehbaren Belastungen und die menschlich absolut verständlichen Sorgen der Klägerin nicht das Geringste zu tun. Wenn man aus der Stellungnahme des behandelnden Therapeuten einen Schluß ziehen konnte, dann nur den, daß die Klägerin ihre eigene Situation sorgfältig reflektiert hatte. Gerade vor diesem Hintergrund spricht die Tatsache, daß die Klägerin sich aus freien Stücken in psychotherapeutische Behandlung begeben hatte, ganz klar gegen die Annahme, ihre Geistestätigkeit könnte krankhaft gestört sein.

  1. Fazit: Das Gericht durfte auf der Basis seiner Erkenntnisse die psychiatrische Begutachtung der Klägerin nicht anordnen. Vielmehr hätte es aus den Akten und aus dem Ergebnis der Anhörung klar entnehmen können, daß an der Prozeßfähigkeit der Klägerin von vornherein keine Zweifel bestanden. Daß das Gericht in Wirklichkeit selbst nicht ernsthaft an eine psychische Erkrankung der Klägerin geglaubt hat, wird deutlich, wenn man sich eine dienstliche Stellungnahme des damaligen Vorsitzenden Richters der 2. Zivilkammer am LG Göttingen vor Augen führt, die dieser unter dem 10.10.2012 abgab, nachdem die Klägerin ein zweites Mal die Besorgnis der Befangenheit gerügt hatte: Darin führt der Vorsitzende Richter aus, er kenne die Klägerin nur aus den beiden anhängigen Prozessen; die Klägerin habe sich ihm gegenüber „nie ‚daneben benommen’ oder ähnliches“. Das Verhalten, das die Klägerin an den Tag gelegt hat, war also offenbar in keiner Weise auffällig. Um so merkwürdiger erscheinen die im hier besprochenen Beweisbeschluß dokumentierten angeblichen Zweifel des Gerichts an der Prozeßfähigkeit der Klägerin.
  1. Aber selbst wenn tatsächlich Zweifel an der Prozeßfähigkeit der Klägerin gegeben gewesen wären, begegnet die Vorgehensweise des LG Göttingen rechtlichen Bedenken. Das Gericht ist bei der Prüfung der Prozeßfähigkeit zwar nicht auf die in §§ 355 ff. ZPO vorgesehenen Beweismittel beschränkt, sondern kann sich aller verfügbaren Erkenntnisquellen bedienen (sog. Freibeweis)[18]. Selbst dies und die Tatsache, daß das Gericht Zweifeln an der Prozeßfähigkeit von Amts wegen nachzugehen hat, ändert aber nichts daran, daß es im Zivilprozeß Aufgabe der Parteien ist, die erforderlichen Beweismittel beizubringen. Das Gericht kann daher – immer vorausgesetzt, aus dem bisherigen Verfahren hätten sich tatsächlich Zweifel an der Prozeßfähigkeit ergeben – einer Prozeßpartei aufgeben, den Nachweis ihrer Prozeßfähigkeit zu führen. Es darf aber nicht von sich aus Beweis durch sachverständige Begutachtung erheben und schon gar nicht dafür einen bestimmten Gutachter benennen[19]. Nun ist freilich zuzugeben, daß das LG Göttingen im vorliegenden Fall die sachverständige Begutachtung nicht von sich aus angeordnet hat. Vielmehr lag ein entsprechender Antrag eines der beklagten Zahnärzte vor. Damit sind aber die rechtlichen Bedenken nicht ausgeräumt. Denn es ist zu beachten, daß es nicht Aufgabe der beklagten Zahnärzte war, die fehlende Prozeßfähigkeit der Klägerin zu beweisen. Vielmehr trägt jede Partei die Beweislast (nur) für ihre eigene Prozeßfähigkeit. Anders ausgedrückt: Die beklagten Zahnärzte ging es nichts an, ob und wie die Klägerin den Beweis ihrer Prozeßfähigkeit führte. Dann aber durfte das LG Göttingen auch einem darauf bezogenen Beweisantrag der beklagten Zahnärzte nicht nachgehen.

Warum handelt es sich um eine krasse Fehlentscheidung? Wenn ein Gericht die psychiatrische Begutachtung einer Person anordnet, die an einem Gerichtsverfahren beteiligt ist, ist allein schon diese Anordnung für jene Person in hohem Maße belastend: Allein schon die Äußerung des Verdachts einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit bedeutet für die betroffene Person eine schwere Demütigung. Das Gericht muß sich also eine solche Anordnung sehr gut überlegen. Das LG Göttingen liefert hingegen im vorliegenden Fall ein pädagogisches Negativbeispiel, wie man in einem solchen Fall nicht vorgehen darf: Es hat den Inhalt der Akten und das Ergebnis der persönlichen Anhörung der Klägerin in grob verfälschender Weise ausgewertet und auf diese Weise den nicht auch nur ansatzweise haltbaren Verdacht konstruiert, die Klägerin befinde sich womöglich nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte.

Wie ging es weiter? Wie bereits erwähnt, nahm die Klägerin den hier besprochenen Beweisbeschluß zum Anlaß, gegen sämtliche Richter der 2. Zivilkammer des LG Göttingen Befangenheitsantrag zu stellen. Ein solcher Befangenheitsantrag ist begründet (und führt zur Auswechslung der betreffenden Richter), wenn anhand konkreter Tatsachen zu befürchten steht, daß ein Richter sein Amt nicht unvoreingenommen und unparteiisch ausübt. Sowohl das LG Göttingen als auch das OLG Braunschweig wiesen den Befangenheitsantrag der Klägerin zurück und führten zur Begründung im wesentlichen folgendes aus: Das Recht, Richter wegen Befangenheit abzulehnen, sei kein Instrument der allgemeinen Kontrolle gerichtlicher Fehler. Sofern das Gericht das geltende Recht fehlerhaft anwende, könne daraus nur dann die Besorgnis der Befangenheit abgeleitet werden, wenn die Grenze zur Willkür überschritten sei. Einen solchen Fall sahen indes weder das LG Göttingen[20] noch das OLG Braunschweig[21] als gegeben an. Auch diese beiden Entscheidungen sind in krasser Weise fehlerhaft. Denn bei gründlicher Durchsicht der Akten hätte den beiden Gerichten auffallen müssen, daß die angeblichen Zweifel an der Prozeßfähigkeit der Klägerin im deutlichen Widerspruch zu den aus den Akten ersichtlichen Unterlagen standen. Die Grenze zur Willkür war im vorliegenden Fall überschritten.

Schließlich beantragte die Klägerin Betreuung für sich beim Amtsgericht Göttingen. Das Sachverständigengutachten für die Prüfung, ob eine solche Betreuung notwendig sei, kam zu dem Ergebnis, daß die Klägerin voll geschäftsfähig und voll prozeßfähig ist. Hieraufhin teilte das LG Göttingen am 23.12.2011 der Klägerin mit, daß es die Betreuungsakte dem Verfahren beigezogen habe und von der Einholung eines weiteren Gutachtens absehe. Die vom LG Göttingen angeordnete psychiatrische Begutachtung hat also letztlich nie stattgefunden.

Besonderheit des Falles: Der hier besprochene Beweisbeschluß sowie die beiden Entscheidungen über den Befangenheitsantrag der Klägerin wurden mir von der Anwältin zugesandt, die den Rechtsstreit für die Klägerin beim LG Göttingen führt. Jene Anwältin wies in ihrem Begleitschreiben auf folgendes hin: „Auffällig ist, daß die angeblichen Zweifel an der Prozeßfähigkeit der Klägerin aufkamen, unmittelbar nachdem diese einen Zahnarzt verklagt und Hinweise auf dessen Aktenmanipulationen vorgetragen hatte, der als Gerichtsgutachter bei den Göttinger Gerichten tätig ist.“ Mit dieser Aussage wird wohlgemerkt lediglich auf einen zeitlichen Zusammenhang hingewiesen, nicht aber ein inhaltlicher Zusammenhang behauptet. Es kann hier nicht nachgeprüft werden, ob hier nur zwei „zusammenpassende“ Ereignisse zufällig zusammentrafen oder ob das Gericht gezielt die Klägerin schikaniert hat, um einen Zahnarzt zu schützen, den es als Gerichtgutachter nicht verprellen wollte. Jedenfalls wenn letzteres der Fall sein sollte, wäre mit dem hier besprochenen Beweisbeschluß die Grenze strafbarer Rechtsbeugung (§ 339 StGB) überschritten.

Entscheidung des LG Göttingen (Beweisbeschluss)

Beschluss des LG Göttingen

Beschluss des OLG Braunschweig

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[1] BGH v. 22.12.1982 – V ZR 89/80, BGHZ 86, 184, 188 f.; BGH v. 4.11.1999 – III ZR 306/98, BGHZ 143, 122, 124; BGH v. 6.12.2013 – V ZR 8/13, WM 2014, 1054 Rn. 8; LAG Mainz v. 5.1.1996 – 4 (6) Ta 247/95, NZA-RR 1996, 347, 348; LG Bonn v. 1.7.2014 – 8 S 316/13, NJW-RR 2014, 1476, 1477. Gleiches gilt im Verfahren zur Bewilligung von Prozeßkostenhilfe (OLG Oldenburg v. 6.3.2008 – 6 W 16/08, FamRZ 2008, 1455, 1456),  im sozialgerichtlichen Verfahren (LSG Berlin/Brandenburg v. 17.12. 2012 – L 2 U 224/12 B, FamRZ 2013, 1318, 1319) sowie im Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (BayObLG, v. 27. 7. 2000 – 2 Z BR 63/00, WuM 2000, 565; OLG Saarbrücken v. 12.1.1998 – 5 W 9/97, ZMR 1998, 310, 312).

[2] Vgl. zu § 33 FGG a. F. BayObLG, v. 27. 7. 2000 – 2 Z BR 63/00, WuM 2000, 565; OLG Düsseldorf v. 8.11.2005 – 3 Wx 128/05, NJW 2005, 3731; zur Anordnung einer Begutachtung, die in eine Vorführungsanordnung gemäß § 68b III FGG a. F. münden kann, KG v. 12.9.2000 – 1 W 6183/00, FGPrax 2000, 237, 238; KG v. 11.9.2001 – 1 W 315/01, FGPrax 2002, 63 f.; abweichend – erst die Vorführungsanordnung selbst begründet den Eingriff – BayObLG v. 31. 1. 2001 – 3 Z BR 20/01, FGPrax 2001, 78 f.

[3] BGH v. 6.12.2013 – V ZR 8/13, WM 2014, 1054 Rn. 10; ebenso schon BGH v. 22.12.1982 – V ZR 89/80, NJW 1983, 996, 997, insoweit in BGHZ 86, 184 nicht abgedruckt.

[4] So im Ergebnis auch BVerfG v. 8.8.2005 – 1 BvR 1542/05, juris Rn. 18 (einstweilige Anordnung); LAG Mainz v. 5.1.1996 – 4 (6) Ta 247/95, NZA-RR 1996, 347, 348; LSG Rheinland-Pfalz v. 24.8.1993 – L 1 Sb 55/93, BeckRS 1993, 30973937.

[5] OLG Frankfurt v. 11.11.1992 – 20 W 430/92, FamRZ 1993, 442.

[6] BVerfG v. 8.8.2005 – 1 BvR 1542/05, juris Rn. 18 (einstweilige Anordnung); BVerfG v. 29.11.2005 – 1 BvR 1542/05, juris Rn. 15 (Entscheidung in der Hauptsache).

[7] OLG Rostock, v. 28.11.2005 – 10 WF 254/05, FamRZ 2006, 554.

[8] BayObLG, v. 27. 7. 2000 – 2 Z BR 63/00, WuM 2000, 565 f.

[9] BVerfG v. 8.8.2005 – 1 BvR 1542/05, juris Rn. 18 (einstweilige Anordnung); OLG Düsseldorf v. 8.11.2005 – 3 Wx 128/05, NJW 2005, 3731; LAG Mainz v. 5.1.1996 – 4 (6) Ta 247/95, NZA-RR 1996, 347, 348; LSG Rheinland-Pfalz v. 24.8.1993 – L 1 Sb 55/93, BeckRS 1993, 30973937.

[10] BGH v. 4.11.1999 – III ZR 306/98, BGHZ 143, 122, 125; BGH v. 6.12.2013 – V ZR 8/13, WM 2014, 1054 Rn. 15 ff.; BSG v. 5.5.1993 – 9/9a RVG 5/92, NJW 1994, 215 f. ; LSG Rheinland-Pfalz v. 24.8.1993 – L 1 Sb 55/93, BeckRS 1993, 30973937.

[11] BVerfG v. 29.11.2005 – 1 BvR 1542/05, juris Rn. 15 (Entscheidung in der Hauptsache); BGH v. 28.5.2009 – I ZB 93/08, NJW-RR 2009, 1223; OLG Rostock, v. 28.11.2005 – 10 WF 254/05, FamRZ 2006, 554, 555.

[12] OLG Oldenburg v. 6.3.2008 – 6 W 16/08, FamRZ 2008, 1455, 1456.

[13] LSG Berlin/Brandenburg v. 17.12. 2012 – L 2 U 224/12 B, FamRZ 2013, 1318, 1319.

[14] KG v. 12.9.2000 – 1 W 6183/0, FGPrax 2000, 237, 238; KG v. 11.9.2001 – 1 W 315/01, FGPrax 2002, 63, 64.

[15] BGH v. 6.12.2013 – V ZR 8/13, WM 2014, 1054 Rn. 8.

[16] BayObLG, v. 27. 7. 2000 – 2 Z BR 63/00, WuM 2000, 565, 566; OLG Saarbrücken v. 12.1.1998 – 5 W 9/97, ZMR 1998, 310, 312; LG Bonn v. 1.7.2014 – 8 S 316/13, NJW-RR 2014, 1476, 1477; LG Düsseldorf v. 16.1.2013 – 34 O 32/12, juris Rn. 2.

[17] LSG Berlin/Brandenburg v. 17.12.2012 – L 2 U 224/12 B, juris Rn. 11, insoweit in FamRZ 2013, 1318 nicht abgedruckt.

[18] OLG Oldenburg v. 6.3.2008 – 6 W 16/08, FamRZ 2008, 1455, 1456; LAG Mainz v. 5.1.1996 – 4 (6) Ta 247/95, NZA-RR 1996, 347, 348.

[19] LAG Mainz v. 5.1.1996 – 4 (6) Ta 247/95, NZA-RR 1996, 347, 349.

[20] LG Göttingen v. 2.3.2010 – 2 O 985/04.

[21] OLG Braunschweig v. 29.7.2011 – 1 W 27/10.