Professor Dr. Martin Schwab

Offene Rechtsfrage zu verbreiteter Praxis –ohne grundsätzliche Bedeutung; Anmerkung zu OLG Köln, Beschlüsse vom 23.6.2008 und vom 30.7.2008 – 18 U 157/07

Erstmals wurde die Frage, ob eine bestimmte, weit verbreitete Verfahrensweise in Versicherungsvereinen rechtlich erlaubt ist vor Gericht erörtert. Man sollte also meinen, daß die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Nein, sagt das OLG Köln – und zwar mit einer „Begründung“, die an Arbeitsverweigerung grenzt.

Was ist passiert? In einem Versicherungsunternehmen, das als sog. Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit organisiert ist, wurde eine Mitgliedervertreterversammlung abgehalten – eine Versammlung, an der nicht alle Mitglieder des Vereins teilnehmen dürfen, sondern eben nur die Mitgliedervertreter; es handelte sich also um eine Art Delegiertenversammlung. Diese Versammlung beschloß, daß drei namentlich benannte Personen kooptiert (also ebenfalls Mitglieder dieser Versammlung) werden sollten. Grundlage dafür war eine Bestimmung in der Satzung des Vereins, in der festgelegt war, daß die Mitgliedervertretung aus 50 bis 90 von ihr selbst gewählten Mitgliedern besteht. Der Beschluß, um den es hier ging, verwirklichte mithin eben diese Bestimmung: Die Mitgliedervertreterversammlung wählte drei Personen, die fortan ebenfalls Mitgliedervertreter sein sollten – ebenso wie diejenigen, von denen sie gewählt worden waren. Um das Verständnis dieses Falls zu erleichtern, stelle man sich für einen Moment vor, der Deutsche Bundestag würde nicht mehr vom Volk gewählt, sondern die Abgeordneten würden selbst bestimmen, wer in Zukunft dem Bundestag angehört – so ungefähr ist auch die Bestimmung in der Satzung des besagten Versicherungsunternehmens gemeint, und so wurde sie auch bei dem Beschluß, um den es hier geht, also bei der „Kooptation“ der drei zusätzlichen Mitglieder angewandt: Die Mitgliedervertretung wird nicht ihrerseits von allen Mitgliedern des Vereins gewählt, sondern wählt sich sozusagen selbst. Der Kläger ist seinerseits Mitglied dieses Versicherungsvereins und erhob gegen diesen Verein Klage mit dem Ziel, festzustellen, daß die Wahl der genannten drei Personen nichtig ist. Dabei machte er vor allem geltend, eine Satzungsbestimmung, die vorsehe, daß die Mitgliedervertretung selbst bestimme, wer ihr angehöre, könne nicht rechtens und daher nicht gültig sein. Die Mitgliedervertretung müsse vielmehr – wenn man so will: demokratisch – von allen Vereinsmitgliedern gewählt werden.

Wie hat das Gericht entschieden? Der Entscheidung des OLG Köln, die es hier zu besprechen gilt, ging eine Entscheidung der Vorinstanz, nämlich des Landgerichts Köln voraus.[1] Das LG Köln hatte die Klage mit einer doppelten Begründung abgewiesen: Erstens sei nicht jedes Vereinsmitglied befugt, die Gültigkeit von Beschlüssen der Mitgliedervertretung gerichtlich überprüfen zu lassen. Ein solches Recht stehe nach § 36 Satz 1 des Versicherungsaufsichtsgesetzes in Verbindung mit §§ 241 ff. des Aktiengesetzes nur denjenigen Personen zu, welche der Mitgliedervertretung angehörten (was beim Kläger nicht der Fall war: er war zwar Mitglied des Vereins, aber eben nicht Mitglied der Mitgliedervertretung). Und zweitens sei die Bestimmung der Satzung, wonach die Mitgliedervertretung ihre eigenen Mitglieder selbst wählt, auch in der Sache völlig in Ordnung. Denn auf diese Weise könne die Mitgliedervertretung ohne großen Aufwand gewählt werden. Es könne ferner sichergestellt werden, daß ihr hinreichend sachkundige Personen angehören. Die Erfahrung lehre, daß in Mitgliederversammlungen eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit dort, wo es sie gebe, meist nur ca. 1% der Mitglieder anwesend seien. Lasse man eine solche Versammlung über die Wahl der Mitgliedervertreter entscheiden, bestehe die Gefahr von Zufallsmehrheiten: Es könne dann passieren, daß Personen in die Mitgliedervertretung gewählt würden, die in Wirklichkeit nicht das Vertrauen der Mitgliedermehrheit genössen. Das LG Köln machte in seinem Urteil zwei Aussagen, die hier wörtlich zitiert seien, weil sie für das weitere Verfahren von Bedeutung sind: (1.) „Die Kooptation ist vor allem bei großen VVaG verbreitet.“ (2.) „In der Rechtsprechung ist – soweit ersichtlich – noch nicht über die Zulässigkeit des Kooptationsverfahrens im VVaG entschieden worden.“

Der Kläger griff dieses Urteil des LG Köln mit der Berufung an. Das OLG Köln wies die Berufung zurück. Dabei führte es gar nicht erst eine mündliche Verhandlung durch und erließ auch kein Urteil, sondern entschied ohne eine solch Verhandlung durch Beschluß. Dazu hielt es sich für befugt; denn die Angelegenheit habe keine grundsätzliche Bedeutung: „Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage [nämlich ob es zulässig ist, daß die Mitgliedervertretung ihre Mitglieder selbst wählt] ist rechtspolitischer Natur (…) und kann deshalb nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung, sondern nur im Wege der Gesetzgebung gelöst werden.“

Warum ist das Urteil rechtlich fehlerhaft? Wenn man sich die Frage stellt, ob das OLG Köln den vorliegenden Fall richtig oder falsch entschieden hat, muß man zwei Fragen trennen: (1.) Hat das Gericht in der Sache richtig entschieden? Hat es also die Art und Weise, wie in dem beklagten Versicherungsverein die Mitgliedervertreterversammlung gewählt wird, zu Recht für zulässig befunden, oder hätte es einen solchen Wahlmodus nicht statt dessen verbieten sollen? (2.) Hat das Gericht bei seiner Entscheidung das richtige Verfahren angewendet? Konnte es also einfach die Berufung zurückweisen, ohne zuvor eine mündliche Verhandlung durchzuführen?

(1)   Das beklagte Versicherungsunternehmen ist in der Rechtsform eines sogenannten „Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit“ organisiert. Was man sich darunter vorzustellen hat, ist im Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) näher beschrieben. Die wichtigste Eigenheit ist die, daß jemand, der bei einem solchen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit versichert ist, nicht bloß ganz normaler Versicherungskunde ist, sondern Vereinsmitglied – im Prinzip nicht anders, als wenn man Mitglied bei einem Sport- oder Gesangsverein ist. Das wissen allerdings in der Praxis nur die wenigsten, die sich bei solchen Unternehmen versichern lassen[2].

(a)    Wenn man im Gesetz nach Vorschriften sucht, wie die sog. „Oberste Vertretung“ eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit personell zusammengesetzt ist, wird man herb enttäuscht: In § 29 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) steht nur geschrieben, daß die „Oberste Vertretung“ entweder in einer Mitgliederversammlung oder in einer Mitgliedervertreterversammlung besteht (letzteres ist eine Art Delegiertenversammlung; zur Vereinfachung wird im folgenden dieser Begriff verwendet). In § 36 VAG steht außerdem geschrieben, daß bestimmte Vorschriften, die für die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft gelten, auch auf die „Oberste Vertretung“ eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit anzuwenden sind. Die entscheidende Frage lautete aber hier: Wenn sich der Verein dafür entscheidet, eine Delegiertenversammlung als Oberste Vertretung einzusetzen – wer wählt denn diese Delegierten, für wie lange und in welchem Verfahren? Auf diese Frage hält das Gesetz keine Antwort bereit.

(b)   Das OLG Köln ist bei eben dieser Feststellung stehen geblieben: Die soeben beschriebene Frage sei eine „rechtspolitische“ Frage. Damit ist folgendes gemeint: Die Art und Weise, wie eine Delegiertenversammlung zu wählen sei, müßten diejenigen regeln, die dafür zuständig seien, (Rechts-) Politik zu betreiben – nämlich nicht die Gerichte, sondern die Gesetzgebungsorgane, also der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesgerierung. Man mag den Gedankengang des OLG Köln wie folgt interpretieren: Die Art und Weise, wie die Delegiertenversammlung gewählt werde und wer zur Wahl berufen sei, sei nicht im Gesetz geregelt. Folglich sei, solange der Gesetzgeber nicht eingreife, erlaubt, was gefällt: In den Vereinssatzungen von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit dürfe für die Delegiertenversammlung jeder beliebige Wahlmodus angeordnet werden. Folglich ist das OLG Köln auch mit einer Wahlordnung einverstanden, die so konstruiert ist, daß die Delegierten selbst entscheiden, wer künftig der Delegiertenversammlung angehören wird.

(c)    Bereits in dieser Handhabung erweist sich das Urteil des OLG Köln als rechtlich fehlerhaft. Denn wenn der Gesetzgeber eine Frage der inneren Ordnung eines Vereins nicht geregelt hat, bedeutet das gerade noch nicht ohne weiteres, daß erlaubt ist, was gefällt. Das hatte die Vorinstanz, nämlich das LG Köln, in seinem Urteil im Ausgangspunkt völlig richtig erkannt. Denn das Gesetz schreibt an mehreren Stellen vor, daß man sich auch dann redlich zu verhalten hat, wenn es keine Vorschrift gibt, die einem im Detail vorgibt, was man zu tun oder zu lassen hat. Die Rede ist von „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB“ und von „billigem Ermessen“ (§ 315 BGB). Diese Vorschriften nennt man „Generalklauseln“; sie greifen immer dann ein, wenn nichts Genaueres im Gesetz steht. Eine dieser Generalklauseln benennt sogar eine sehr deutliche Rechtsfolge: Nach § 138 Abs. 1 BGB sind Rechtsgeschäfte nichtig (also ungültig), wenn sie gegen die guten Sitten verstoßen. Auch die Satzung eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit ist ein Rechtsgeschäft; auch sie kann gegen die guten Sitten verstoßen. Deshalb, so hatte das LG Köln im Ausgangspunkt richtig gesehen, mußte auch die Satzung des beklagten Versicherungsunternehmens, in welcher der Wahlmodus für die Delegiertenversammlung geregelt ist, darauf hin überprüft werden, ob er gegen Treu und Glauben oder gegen die guten Sitten verstieß. Wenn es aber im Gesetz Vorschriften (und sei es auch noch so allgemein gehaltene) gibt, anhand derer man beurteilen kann, ob die Satzung des Vereins so gilt, wie sie geschrieben steht, handelt es sich nicht mehr um eine Frage der Rechts politik, sondern um eine Frage der Rechtsanwendung. Und zur Anwendung des Rechts sind gerade die Gerichte – und nur sie – berufen. Das OLG Köln hätte daher nicht so tun dürfen, als ginge es die Frage, ob der Wahlmodus für die Delegiertenversammlung des beklagten Versicherungsvereins rechtlich in Ordnung geht, überhaupt nichts an.

(d)   Eine ganz andere Frage ist, ob denn die Delegiertenversammlung tatsächlich so zusammengesetzt werden darf, wie es die Satzung des beklagten Versicherungsvereins bestimmt. Diese Frage war schwierig zu beantworten, weil alle denkbaren Gestaltungsmöglichkeiten gravierende Nachteile haben. Wenn man es so macht wie der beklagte Verein und die Delegiertenversammlung dazu ermächtigt, selbst zu bestimmen, wer ihr angehört, liegen die Defizite auf der Hand: Die Delegierten werden nur solche Personen berufen, die ihnen selbst genehm sind. Die Folge ist, daß die Geschicke des Unternehmens von einer Clique von Leuten bestimmt wird, die sich gegenseitig mit Posten versorgt und nur in zweiter Linie auf das Interesse des Unternehmens bedacht ist. Diese Sorge ist in der wissenschaftlichen Literatur auch nachdrücklich geäußert worden[3]. Es besteht schlicht die Gefahr der Vetternwirtschaft. Wenn man aber die Vereinsmitglieder (also diejenigen, die bei dem Verein versichert sind) entscheiden läßt, wer in die Delegiertenversammlung gewählt wird, droht ein anderer Nachteil: Weil eben die meisten Mitglieder eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit nicht wissen, daß sie Mitglieder sind, erscheinen sie auch nicht auf Mitgliederversammlungen und nehmen auch sonst keinen Einfluß auf die Geschicke des Unternehmens. Auf Mitgliederversammlungen von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit erscheinen daher erfahrungsgemäß nicht einmal 1% aller Mitglieder. Das gibt wiederum denjenigen, die erscheinen, die Möglichkeit, Zufallsmehrheiten zustande zu bringen oder gar ihrerseits eine ihnen genehme Seilschaft von Delegierten mit entsprechendem Einfluß auszustatten. Das LG Köln hatte als Vorinstanz aus diesem Grund den Wahlmodus des beklagten Versicherungsunternehmens für rechtlich zulässig gehalten. Mit dieser Begründung erscheint das Ergebnis, zu dem das LG Köln gelangt ist, vertretbar – wenngleich nicht restlos überzeugend: Wenn man schon die Delegiertenversammlung dazu ermächtigt, selbst die Delegierten zu wählen, hätte man wenigstens fordern müssen, daß die Wahl durch die Mitgliederversammlung bestätigt wird. Auf diese Weise wäre ein doppelter Kontrollmechanismus installiert worden: Weder die Delegierten selbst noch eine Zufallsmehrheit auf der Mitgliederversammlung hätte allein entscheiden können, wer künftig als Delegierter über die Geschicke des Unternehmens entscheidet. Die Bildung von Seilschaften wäre damit wesentlich schwieriger geworden.

(e)    Das entscheidende inhaltliche Defizit in der Entscheidung des OLG Köln – die hier im Mittelpunkt der Betrachtung steht – besteht nach alledem darin, daß das OLG sich seiner zentralen Aufgabe verweigert hat: Es hätte sich inhaltlich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob der Wahlmodus zur Delegiertenversammlung des beklagten Versicherungsvereins rechtlich zulässig ist oder nicht. Es hätte nicht statt dessen einfach auf die Politik (d. h. auf den Gesetzgeber) verweisen dürfen.

(2)   Aber auch das vom OLG angewandte Verfahren war rechtlich nicht in Ordnung. Das OLG hatte über die Berufung des Klägers gegen die Entscheidung des LG Köln zu entscheiden. Das OLG Köln hatte grundsätzlich zwei Möglichkeiten, das Verfahren zu gestalten: Es konnte entweder eine mündliche Verhandlung anberaumen; dann hätte es über die Berufung durch Urteil entscheiden müssen. Oder es konnte ohne mündliche Verhandlung – und dann durch Beschluß – entscheiden. Ob durch Urteil oder durch Beschluß entschieden wird, ist für das weitere Verfahren von eminent wichtiger Bedeutung: Wenn die Berufung durch Urteil zurückgewiesen wird, ist grundsätzlich – wenn auch unter bestimmten weiteren, hier nicht zu diskutierenden Voraussetzungen – die Revision zum Bundesgerichtshof statthaft; das Berufungsurteil kann also noch einmal bei einer höheren Instanz angegriffen werden. Wenn die Berufung durch Beschluß zurückgewiesen wird, kann dieser demgegenüber nicht mehr angegriffen werden: Was das Berufungsgericht durch Beschluß entscheidet, ist endgültig.

(a)    Welche der beiden genannten Gestaltungsmöglichkeiten – Urteil oder Beschluß – das OLG Köln wählte, stand nicht in seinem Belieben. Eine mündliche Verhandlung konnte das OLG sich vielmehr nur dann ersparen, wenn die Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO vorlagen. Und genau hier liegt das Problem: § 522 Abs. 2 erlaubt – etwas verkürzt formuliert – dem Berufungsgericht (also hier: dem OLG Köln), ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluß zu entscheiden, wenn die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat und die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat.

(b)   Das LG Köln hat hierzu als Vorinstanz in seinem Urteil zwei bemerkenswerte Feststellungen getroffen. Es hat nämlich erstens ausgeführt, daß der Wahlmodus, wonach die Delegierten selbst entscheiden, wer in die Delegiertenversammlung gewählt wird, vor allem bei großen Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit verbreitet sei. Die rechtlichen Fragen, über die das Gericht zu entscheiden hatte, können also nicht nur in diesem einen Fall, sondern öfters auftreten. Zweitens hat das LG Köln festgestellt, daß in der Rechtsprechung bislang noch nie zuvor über die Frage entschieden wurde, ob der Wahlmodus, wie oben beschrieben, rechtlich zulässig ist. Wir haben es also mit juristischen Problemen zu tun, die immer wieder auftreten können und zu denen sich die Gerichte noch nie geäußert haben. Damit diejenigen, die von diesem Problem betroffen sind oder eines Tages betroffen sein könnten, wissen, wonach sie sich zu richten haben, wäre es von größtem Interesse, wenn die Gerichte sich zu besagtem Problem – nämlich die Zulässigkeit des Wahlmodus zur Delegiertenversammlung – äußern würden. Das heißt: Die Angelegenheit hatte (und zwar ganz eindeutig!) grundsätzliche Bedeutung.

(c)    Das OLG Köln hätte sich daher die Mühe machen müssen, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Es hätte sodann ein Urteil fällen müssen und nicht durch Beschluß entscheiden dürfen. Es hätte gegen dieses Urteil außerdem die Revision zulassen müssen. Denn dazu ist es nach § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO verpflichtet, wenn die Sache – wie hier – grundsätzliche Bedeutung hat. Dann hätte der Bundesgerichtshof als oberste Instanz die Möglichkeit gehabt, sich zur Frage zu äußern, ob beim Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit die Satzung bestimmen darf, daß die Delegiertenversammlung selbst entscheiden darf, wer ihr angehört.

Warum ist das Urteil eine krasse Fehlentscheidung? Bevor das Urteil des OLG Köln unter diesem Gesichtspunkt näher gewürdigt werden kann, gilt es eines klarzustellen: Der Vorinstanz, also dem LG Köln, ist kein Vorwurf zu machen. Das LG Köln hatte sein erstinstanzliches Urteil sorgfältig und mit vertretbaren Überlegungen begründet. Auch wenn dieses Urteil nach hier vertretener Ansicht nicht in allen Punkten überzeugt, ist es weit davon entfernt, als krasse Fehlentscheidung gebrandmarkt werden zu können.

Wohl aber muß die Entscheidung des OLG Köln als eine krasse Fehlentscheidung gewertet werden, und zwar gleich in doppelter Hinsicht. Erstens hat das OLG sich geweigert, die ihm aufgetragene Arbeit zu verrichten: Das Gericht ist dazu da, über die Rechtsfragen zu entscheiden, auf die es für den Ausgang des Prozesses ankommt. Eine solche Rechtsfrage lag hier vor: Es war zu fragen, ob die Delegiertenversammlung nach dem Modus gewählt werden durfte, wie ihn die Satzung des beklagten Versicherungsunternehmens vorsah. Diese Frage war eben nicht nur eine politische. Zweitens hat das OLG durch die Wahl einer eindeutig falschen Verfahrensart und Verfahrensform dem Kläger die Chance genommen, die Entscheidung vor dem Bundesgerichtshof anzugreifen. Wenn das Gesetz einen bestimmten Weg zu den Gerichten und den dort bereitgehaltenen Instanzen vorsieht, muß jeder die Chance haben, diese Gerichte auch tatsächlich anzurufen. Dieses Gebot ist im Grundgesetz in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 verankert: Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Eben dies hat das OLG Köln aber mit der hier besprochenen Entscheidung getan.


[1] LG Köln, Urteil vom 24. 8. 2007 – 82 O 212/06, BeckRS 2007, 16603 = VersR 2008, 665.

[2] Adams/Maßmann, ZRP 2002, 128, 130.

[3] Adams/Maßmann, ZRP 2002, 128, 130 f.

3 Reaktionen zu “Offene Rechtsfrage zu verbreiteter Praxis –ohne grundsätzliche Bedeutung; Anmerkung zu OLG Köln, Beschlüsse vom 23.6.2008 und vom 30.7.2008 – 18 U 157/07”

  • Dr. Hans Oehlers
    Am 8. August 2010 um 22:35 Uhr

Der Zorn und das Gefühl der Ohnmacht jener Parteien und ihrer Vertreter, die eine Beschlusszurückweisung nach § 522 ZPO erfahren, obwohl, wie sie meinen, ihr Verfahren grundsätzliche Bedeutung habe und daher vor den BGH gehöre, ist jedem Berufungsrichter bekannt. Umso genauer schaut man hin, wenn sich ein entsprechender Beschluss eines OLGs mit dem Verdikt „Skandalurteil“ auf „watch the court“ findet.
Ich habe die Entscheidung im Wortlaut auf der Seite nicht finden können (,was wahrscheinlich meinem technischen Unverständnis zuzuschreiben ist,), so dass die Interpretation dessen, was die Kölner Richter gemeint haben, mit Unsicherheit behaftet ist.
Ich habe die Entscheidung nach dem Kommentar jedenfalls so verstanden, dass das OLG meint, jener Bereich sei unreguliert und den Gerichten komme nicht die Kompetenz zu, ihn durch Richterrecht auszufüllen, dies sei vielmehr Aufgabe des Gesetzgebers. Dies scheint mir seit der Schünemannschen Debatte um die Rolle des Richters als Ersatzgesetzgeber ein grundsätzlich anerkennenswerter Ansatz.
Damit bleibt eigentlich nur die Frage, darf ein Berufungsgericht auf den Gesetzgeber verweisen, ohne die Revision zum BGH möglich zu machen. Der Kommentator von „watch the court“ insinuiert durch seine Formulierungen, dies stehe im Ermessen des Gerichts: Wählt es den Beschluss nach § 522, ist der Rechtsweg zum BGH verlegt; entscheidet es durch Urteil, ist der Weg zum BGH frei. Dies erweckt den Eindruck, das OLG Köln habe sich (bei freier Wahl) für jene Variante entschieden, die eine Kontrolle ausschließt. Das ist nun allerdings bekanntermaßen nicht so. Der maßgebliche Unterschied besteht darin, dass beim Beschluss nach § 522 ZPO die Richter einstimmig entscheiden. Sind die Berufungsrichter einstimmig der Meinung, die Berufung werde keinen Erfolg haben, weisen sie diese unverzüglich durch Beschluss zurück. Der Gesetzgeber hat die damit verbundene Rechtsschutzlücke (keine Revision, keine Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH) hingenommen, in der Annahme ein einstimmiger Beschluss biete eine größere Richtigkeitsgewähr (vom BVerfG „abgesegnet“).
Damit bleibt wegen des Beschlusses des OLG Köln nur noch die Frage zu diskutieren, ob die Kölner Richter die Frage der „grundsätzlichen Bedeutung“ richtig beantwortet haben. Dies ist nun täglich Brot des Berufungsrichters. Ob indessen der Umstand, dass das Berufungsgericht auf § 138 BGB und andere Generalklauseln nicht „anspringt“, sondern auf den Gesetzgeber verweist, in diesem Zusammenhang das Verdikt „Skandalurteil“ verdient, möchte ich doch ernsthaft bezweifeln. Man kann diese Frage sicher ernsthaft erörtern, allerdings sollten die Kommentatoren die Fantasie der Rechtspraxis nicht unterschätzen: Die Lebenssachverhalte, zu denen das Gesetz im Konkreten „schweigt“, sind mannigfaltig – und die Versuche der Parteien, unter Berufung auf Generalklauseln dieses Schweigen in ihrem Sinne zu deuten, sind Legion. Verdient jeder Beschluss, in dem ein Berufungsgericht bei dieser Entscheidung möglicherweise danebenliegt, tatsächlich die Bezeichnung Skandalbeschluss?

  • Univ.-Prof. Dr. Martin Schwab
    Am 30. Oktober 2010 um 11:13 Uhr

Sehr geehrter Einsender,

Sie haben mit Ihrem Beitrag einen sensiblen Punkt getroffen: Wo liegt die Grenze zwischen „einfachen“ und „eklatanten“ Fehlurteilen? Ein wichtiges Kriterium wird sein, ob das Gericht seine Entscheidung in redlichem Ringen um Argumente getroffen oder aber sich der Auseinandersetzung mit den widerstreitenden Standpunkten gänzlich verweigert hat. Entscheidend ist mit anderen Worten, ob ein Gericht sich allzu schnell mit seinem Arbeitsergebnis zufriedengibt. Gerade in letzterem sehe ich die Rechtfertigung, den Beschluß des OLG Köln als Skandalbeschluß zu brandmarken: Das Gericht hat trotz der gedanklichen Vorarbeiten, welche die Vorinstanz angestellt hatte, um die Besetzung der Delegiertenversammlung auf dem Boden des geltenden Rechts zu würdigen, das gesamte Problem ohne jede eigene Begründung als rein rechtspolitische Frage abgetan. Darin kann und darf sich das Ergebnis richterlicher Tätigkeit in einem Rechtsstaat nicht erschöpfen. Denn aus der Sicht des Rechtsmittelführers muß dieser Beschluß als Botschaft verstanden werden, daß das Gericht sich für diese Angelegenheit nicht interessiert. Es hat sich aber dafür zu interessieren – denn unter der Geltung des staatlichen Gewaltmonopols ist der Bürger auf die Anrufung der Gerichte verwiesen und kann dementsprechend verlangen, daß die Gerichte sich ernsthaft mit seinem Rechtsschutzbegehren befassen. Eben dies ist hier eindeutig nicht erfolgt.

Daß Sie die Entscheidung nicht in ihrem Wortlaut gefunden haben, ist nicht etwa auf ein Unverständnis von Ihrer Seite zurückzuführen, sondern darauf, daß wir die Software zum Einscannen der uns überlassenen Urteile erst bestellen mußten. Wir werden die Veröffentlichung der von uns kommentierten Entscheidungen im Original in Kürze nachholen.

Mit freundlichen Grüßen
Martin Schwab

  • Dr. Andreas Geipel
    Am 22. April 2011 um 12:55 Uhr

Der Einsender Dr. Oehlers hat mit dem Verweis auf die Einstimmigkeit bei § 522 ZPO Recht, aber in diesem Zusammenhang muss betont werden, dass das Einstimmigkeitsprinzip theoretisch zu einer höheren Richtigkeitsgewähr führt, an der tatsächlichen Realität von richterlichen Kollegialentscheidungen jedoch vorbeigeht (vgl. Rimmelspacher, Bessere Kontrolle zivilprozessualer Berufungsentscheidungen, ZRP 2010, S. 217 f. m.w.N.), denn sogar Urteile –und damit erst Recht Beschlüsse- ergehen i.d.R. einstimmig (vgl. Krüger, Unanfechtbarkeit des Beschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO- Ein Zwischenruf, NJW 2008, S. 945, 947). Hierzu ein Zitat: „Wie in jedem sozialen Körper bildet sich auch in einem Richterkollegium das heraus, was man in anderen Bereichen eine ‚Hackordnung‘ nennt. Sie wird nach meinen [Präsident des BVerwG Sendler] in der ersten wie in der dritten Instanz gesammelten Erfahrungen keineswegs stets vom Vorsitzenden bestimmt – dies entgegen vielem, was vor etwa einem Jahrzehnt gegen das angeblich unerträgliche Übergewicht des Vorsitzenden geschrieben worden ist, um damit große Reformen und die sogenannte Demokratisierung der Justiz zu rechtfertigen; mancher, der über die Knechtung durch die Vorsitzenden geklagt hat, hat sich und anderen damit ein vielleicht – ich fürchte sogar wahrscheinlich – richtiges, aber sicher kein gutes Zeugnis ausgestellt“ (Sendler, Zur Unabhängigkeit des Verwaltungsrichters, NJW 1983, S. 1449, 1451).