Professor Dr. Martin Schwab
Richter oder Rechtsanwalt? Anmerkung zu LG Frankfurt am Main, Urteil vom 6. 2. 2007 – 2-10 O 238/06
Ein Richter versäumt es, einen Zeugen zu vernehmen, auf den sich eine Partei berufen hat, und erteilt statt dessen in kurioser Form Ratschläge, wie die Klägerseite gerichtlich gegen diesen Zeugen vorgehen kann.
Was ist passiert? Die Klägerin hatte 2001 bei der Volksfürsorge Deutsche Lebensversicherung AG (im folgenden: Volksfürsorge) unter anderem eine Berufsunfähigkeitszusatzversicherung abgeschlossen. Im April 2004 zeigte sie ihre Berufsunfähigkeit an und beantragte entsprechende Versicherungsleistungen. Die Volksfürsorge trat daraufhin vom Versicherungsvertrag zurück und focht diesen an, weil die Klägerin ihr bei Abschluß des Versicherungsvertrags wesentliche Vorerkrankungen verschwiegen habe. Mit Schreiben vom 18. 8. 2004 (das bei der Klägerin am 19. 8. 2004 einging) verweigerte sie die beantragten Leistungen endgültig und wies darauf hin, daß die Klägerin nach § 12 III VVG in der damals geltenden Fassung ihre (angeblichen) Ansprüche innerhalb von sechs Monaten gerichtlich geltend machen müsse; andernfalls würden jene Ansprüche verfallen. Die Klägerin wandte sich daraufhin an einen privaten Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Versicherungskunden bei der Verfolgung von Ansprüchen gegen ihre Versicherer zu unterstützen. Dort wurde sie von Rechtsanwalt O. beraten. Dieser vermittelte sie an eine Kanzlei, der unter anderem Rechtsanwältin M. angehörte. Rechtsanwältin M. setzte am 25. 2. 2005 eine Klageschrift auf und reichte diese am gleichen Tag beim Landgericht Hamburg ein. Bis dahin hatten die Klägerin und Rechtsanwältin M zu keiner Zeit direkt miteinander kommuniziert; wohl aber ist in den Prozeßakten ein reger E-Mail-Verkehr zwischen der Klägerin und Rechtsanwalt O. dokumentiert. Als es im März 2005 erstmals zu einem Treffen zwischen der Klägerin und Rechtsanwältin M, kam, wurde deutlich, daß der Klage kein Erfolg beschieden sein konnte, weil eventuelle Ansprüche der Klägerin gegen die Volksfürsorge am 19. 2. 2005 verfristet waren. Rechtsanwältin M. legte daher das Mandat nieder; die Klägerin beauftragte einen anderen Anwalt damit, die Klage zurückzunehmen. Die Klägerin stellte sich nunmehr auf den Standpunkt, daß ihre Ansprüche gegen die Volksfürsorge deshalb verfallen seien, weil Rechtsanwältin M. nicht sorgfältig genug gearbeitet habe: Rechtsanwältin M. habe niemals danach gefragt, wann die Volksfürsorge die Leistungen aus dem Versicherungsvertrag abgelehnt habe. Deshalb habe Rechtsanwältin M. – woran sie selbst schuld sei – nicht einschätzen können, wann die Frist nach § 12 III VVG (in der damaligen Fassung) ablaufe. Die Klägerin verklagte daher die Kanzlei, der Rechtsanwältin M. angehört, auf Schadensersatz. Die beklagte Kanzlei wehrte sich mit der Begründung, die Klägerin habe nie Wert auf einen persönlichen Kontakt mit Rechtsanwältin M. gelegt, sondern alles über Rechtsanwalt O. abwickeln wollen. Rechtsanwältin M. habe daher keine Chance gehabt, die Klägerin zu fragen, wann die Volksfürsorge die beantragten Leistungen abgelehnt habe. Gegenüber Rechtsanwalt O., der die Korrespondenz mit der Klägerin geführt hatte, habe die Klägerin fälschlich angegeben, daß die Volksfürsorge die Leistungen am 28. 8. 2004 abgelehnt habe; wäre dies richtig gewesen, wäre die Klage am 25. 2. 2005 noch rechtzeitig gewesen.
Wie hat das Gericht entschieden? Der Richter (ein Einzelrichter am Landgericht Frankfurt am Main) verkündete schließlich folgendes Urteil: Die Klage wird abgewiesen. Begründung: Rechtsanwältin M. sei nicht verpflichtet gewesen, die Klägerin persönlich danach zu fragen, wann die Volksfürsorge die beantragten Leistungen aus dem Versicherungsvertrag abgelehnt habe. Denn Rechtsanwältin M. habe es lediglich übernommen, die Klägerin vor Gericht zu vertreten. Die eigentliche Betreuung des Mandats habe demgegenüber Rechtsanwalt O. übernommen. Das ergebe sich aus der Mail-Korrespondenz, die zwischen der Klägerin und Rechtsanwalt O. geführt worden sei. Dann aber sei es allein Aufgabe von Rechtsanwalt O. gewesen, die Klägerin danach zu fragen, wann die Volksfürsorge die Leistungen abgelehnt habe. Bei alledem stützte sich der Richter allein auf die besagte Mail-Korrespondenz. Zusätzlich war Rechtsanwalt O. als Zeuge benannt worden, wurde vom Richter aber nicht geladen und nicht vernommen. Das Urteil enthält schließlich – nach der Unterschrift des Richters – eine „Anlage“, in der es wörtlich heißt: „Die Kammer hat aufgrund des bisherigen Sach- und Streitstandes keine Zweifel, daß die Klage gegen den Rechtsanwalt O. (im Original ausgeschrieben unter Nennung der genauen Adresse) begründet wäre.“
Warum ist das Urteil rechtlich fehlerhaft? Für die Entscheidung kam es auf die Frage an, ob Rechtsanwältin M. die Klägerin nur nach außen vertreten oder ob sie auch das Mandat insgesamt betreuen sollte. War sie nur damit betraut, die Klägerin nach außen zu vertreten, so trifft die Auffassung des Richters zu: Dann durfte sie sich darauf verlassen, daß Rechtsanwalt O. die richtigen Fragen stellte und der Klägerin die rechtlichen Zusammenhänge erklärte. War sie dagegen auch damit betraut, das Mandat insgesamt zu betreuen, so hätte sie selbst die entsprechenden Fragen stellen müssen. In diesem Fall wäre der Fehler bei ihr selbst gelegen, und sie hätte dafür gehaftet, daß die Klägerin ihre Ansprüche gegen die Volksfürsorge verloren hatte. Für die Frage, welche dieser beiden Versionen zutrifft, gab es zwei Beweismittel: Zum einen die E-Mails, die zwischen der Klägerin und Rechtsanwalt O. ausgetauscht worden waren, und zum anderen die Zeugenaussage von Rechtsanwalt O. Diese Beweismittel hat der Richter nicht ausgeschöpft: Er hat nur die Mails verwertet, nicht aber Rechtsanwalt O. als Zeugen vernommen. Zudem kennt das deutsche Zivilverfahrensrecht keine „Anlage“ zum Urteil, in der einer Partei Ratschläge gegeben werden, gegen wen sie nunmehr Ansprüche geltend machen kann. Außerdem schreibt der Richter, „die Kammer“ (also der gesamte Spruchkörper, dem er angehört) halte Ansprüche gegen Rechtsanwalt O. für begründet; über die Klage der Klägerin hatte der Richter jedoch als Einzelrichter entschieden, also gerade ohne die übrigen Richter jenes Spruchkörpers.
Warum ist das Urteil eine krasse Fehlentscheidung? Das Urteil ist nicht schon deshalb ein krasses Fehlurteil, weil Rechtsanwalt O. nicht als Zeuge vernommen wurde. Diese Verfahrensweise war zwar rechtlich fehlerhaft; doch handelt es sich um eine Panne, wie sie im Gerichtsalltag nun einmal vorkommen kann. Zu einer krasse Fehlentscheidung wird das Urteil allein aufgrund der beschriebenen „Anlage“. Diese entfernt sich gleich in zwei Punkten eklatant vom Gesetz:
(1) Mit der Klage machte die Klägerin Schadensersatzansprüche gegen die Kanzlei geltend, der Rechtsanwältin M. angehörte. Nach Ansprüchen gegen Rechtsanwalt O. war der Richter nie gefragt worden. Deshalb durfte er über solche Ansprüche nicht entscheiden (§ 308 I ZPO!). Nun hat der Richter streng genommen über Ansprüche gegen Rechtsanwalt O. auch nicht „entschieden“, sondern nur – dies aber sehr deutlich – gesagt, wie er entschieden hätte, wenn Rechtanwalt O. mit verklagt worden wäre. Nun kommt es häufig vor, daß Gerichte in ihren Urteilen vage Andeutungen machen, wenn sie der Auffassung sind, daß der Kläger den Falschen verklagt hat. Sie betonen dann aber immer, daß mögliche Ansprüche gegen Dritte nicht Gegenstand der Entscheidung waren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Über derartige Andeutungen geht die Art und Weise, wie der Richter im hier gegebenen Fall vorgegangen ist, aber weit hinaus: Der Richter hat sich festgelegt, daß er Ansprüche der Klägerin gegen Rechtsanwalt O. für sicher gegeben hält. Derartige Ratschläge darf ein Richter einer Partei nicht erteilen[1].
(2) Wenn sich der Richter aber dazu verstieg, sich zu Ansprüchen der Klägerin gegen Rechtsanwalt O. zu äußern, dann wäre wenigstens deshalb die Vernehmung von Rechtsanwalt O. als Zeuge geboten gewesen. Der Richter hat Rechtsanwalt O. eine Verletzung seiner anwaltlichen Pflichten vorgeworfen, ohne daß dieser überhaupt die Chance hatte, hierzu Stellung zu beziehen.
Die Entscheidung erweist sich damit im Hinblick auf die „Anlage“ als eindeutig und offensichtlich unhaltbar. Das Gericht ist weder berufen noch befugt, den Parteien Ratschläge zu erteilen, gegen wen sie jetzt noch vorgehen könnten.
[1] So auch – in einem insoweit ganz ähnlichen Fall – OLG Brandenburg MDR 2009, 586, 587.