Professor Dr. Martin Schwab
Unmöglich unzuständig: Anmerkung zu LG Frankfurt am Main, Urteil vom 21. 11. 2006 – 2-10 O 334/05
Ein Richter hat keine Lust, über den ihm vorgelegten Fall zu entscheiden. Er urteilt daher mit eindeutig gesetzesfernen – um nicht zu sagen: an den Haaren herbeigezogenen – Argumenten, daß er für diesen Fall nicht zuständig sei. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, läßt er Wesentliches im Protokoll weg. Er bewertet den Seniorchef der Kanzlei – fälschlicherweise – als Bevollmächtigten des bearbeitenden Anwalts. Und weil nur ein Bevollmächtigter erschienen ist, sei die Partei nicht an einer Sachentscheidung interessiert.
Was ist passiert? Die Klägerin hatte eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Sie war in der Folgezeit nach eigenen Angaben berufsunfähig geworden und machte nunmehr vor dem Landgericht Frankfurt am Main gegen die Versicherungsgesellschaft Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag geltend. Über die Klage entschied ein Einzelrichter. Die Versicherungsgesellschaft hatte sich gegen die Klage zunächst unter anderem mit der Begründung gewehrt, das Landgericht Frankfurt am Main sei örtlich nicht zuständig: Die Gesellschaft hatte ihren Sitz nicht in Frankfurt am Main. Diese Rüge ließ sie jedoch mit Schriftsatz ihres Anwalts vom 25. 10. 2005 fallen. Daraufhin verfügte der Richter, daß der Termin zur mündlichen Verhandlung, den er für den 22. 11. 2005 anberaumt hatte, aufrecht erhalten bleiben sollte. In der mündlichen Verhandlung stellte die Klägerin den Antrag aus der Klageschrift. Die beklagte Versicherungsgesellschaft beantragte, die Klage abzuweisen, weil die Klägerin von der Versicherungsgesellschaft nichts verlangen könne: Die Ansprüche, die sie geltend mache, stünden ihr in Wirklichkeit nicht zu. Die Tatsache, daß jene Anträge gestellt worden waren, führte der Richter im Verhandlungsprotokoll nicht auf. Mit Beschluß vom 24. 1. 2006 wies der Richter die Klägerin darauf hin, daß das Landgericht Frankfurt am Main örtlich nicht zuständig sei. Der Anwalt der beklagten Versicherungsgesellschaft machte wenig später mit Schriftsatz vom 7. 3. 2006 darauf aufmerksam, daß das Protokoll diese Tatsache – nämlich daß beide Parteien Sachanträge gestellt hatten – verschweige, und beantragte eine entsprechende Berichtigung des Protokolls; mit dieser Berichtigung war auch die Anwältin des Klägers einverstanden. Mit Schriftsatz vom 5. 4. 2006 machte der Anwalt der beklagten Versicherungsgesellschaft nochmals darauf aufmerksam, daß er die Rüge der örtlichen Unzuständigkeit habe fallen lassen. Am 21. 11. 2006 wurde nochmals mündlich verhandelt; die beklagte Versicherungsgesellschaft wurde in dieser Verhandlung nicht durch den Anwalt vertreten, der bislang das Mandat bearbeitet hatte, sondern durch einen Kollegen derselben Kanzlei, und zwar durch den namensgebenden Partner.
Wie hat das Gericht entschieden? Der Richter verkündete schließlich folgendes Urteil: Die Klage wird abgewiesen. Begründung: Das Gericht sei örtlich nicht zuständig. Darauf habe es die Klägerin auch hingewiesen; diese habe gleichwohl an ihrem Klageantrag festgehalten und eine Entscheidung in der Sache begehrt. Diese Entscheidung könne und dürfe das Gericht aber – eben mangels Zuständigkeit – nicht treffen. Die beklagte Versicherungsgesellschaft habe „zumindest inzident“ weiterhin die mangelnde Zuständigkeit des Gerichts gerügt. Denn der Anwalt, der das Mandat bisher bearbeitet habe, sei in der letzten mündlichen Verhandlung nicht selbst aufgetreten, sondern habe bloß einen Unterbevollmächtigten auftreten lassen. Dadurch habe die Beklagtenseite gezeigt, daß sie an einer Sachentscheidung nicht interessiert gewesen sei.
Warum ist das Urteil rechtlich fehlerhaft? Das Gericht hätte sich nicht für unzuständig erklären dürfen. Zwar trifft es zu, daß bei Klagen gegen eine Gesellschaft grundsätzlich das Gericht zuständig ist, an dem die Gesellschaft ihren Sitz hat (§ 17 ZPO). Im hier gegebenen Fall hatte jedoch die beklagte Gesellschaft in der mündlichen Verhandlung den Antrag gestellt, die Klage abzuweisen, und diesen Antrag nicht etwa auf die fehlende Zuständigkeit des Gerichts, sondern darauf gestützt, daß der Klägerin in der Sache selbst kein Anspruch zustehe. Damit hat die beklagte Gesellschaft zur Hauptsache verhandelt, ohne die örtliche Unzuständigkeit zu rügen. Aus diesem Grund ist das Landgericht Frankfurt am Main nach § 39 ZPO örtlich zuständig geworden. Der Richter wäre also verpflichtet gewesen, im einzelnen zu prüfen, ob die Klägerin von der beklagten Versicherungsgesellschaft die begehrte Zahlung verlangen kann.
Warum ist das Urteil eine krasse Fehlentscheidung? Die Urteilsgründe zeigen, daß der Richter die Vorschrift des § 39 ZPO an sich durchaus gesehen hat: Er hat erkannt, daß er möglicherweise nach dieser Vorschrift zuständig sein würde. Das aber hätte bedeutet, daß er den Anspruch der Klägerin im einzelnen hätte prüfen müssen. Um diese Folge zu vermeiden, hat er § 39 ZPO für nicht anwendbar erklärt und sich dabei gleich mehrfach willkürlich über das Gesetz hinweggesetzt:
(1) Der Richter hat die Tatsache, daß die beklagte Gesellschaft mündlich zur Hauptsache verhandelt hat, im Protokoll verschwiegen. Er hat das Protokoll selbst dann nicht berichtigt, als er von einem der beteiligten Anwälte darauf hingewiesen wurde. Nun ist aber eben diese Tatsache für die Zuständigkeit entscheidend: Gerade deshalb, weil die beklagte Versicherungsgesellschaft zur Sache verhandelt hat, ist das Landgericht Frankfurt am Main zuständig geworden. Hätte der Richter das im Protokoll festgehalten, so hätte er sich selbst eingestehen müssen, daß er sich nicht für unzuständig erklären darf, sondern sich mit dem Klagevorbringen in der Sache auseinandersetzen muß.
(2) Die beklagte Versicherungsgesellschaft hatte mehrfach ausdrücklich zu erkennen gegeben, daß sie die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Frankfurt am Main nicht anzweifeln wolle. Der Richter hat trotzdem angenommen, daß die Beklagte die örtliche Unzuständigkeit weiterhin rüge. Er hat dies darauf gestützt, daß die Beklagte sich nicht durch den Anwalt habe vertreten lassen, der zuvor das Mandat bearbeitet habe, sondern durch einen „Unterbevollmächtigten“. Damit habe die Beklagte zu erkennen gegeben, daß sie an einer Sachentscheidung eigentlich nicht interessiert sei. Das war in mehrfacher Hinsicht grob fehlerhaft: Zum einen ist die Vertretung einer Partei durch einen „unterbevollmächtigten“ Rechtsanwalt im Rechtssinne eine vollwertige Vertretung. Zum anderen und vor allem aber ist in der mündlichen Verhandlung nicht etwa „irgendwer“ für die Beklagte aufgetreten, sondern ein Kollege derselben Kanzlei. Man muß unterstellen, daß diese Kanzlei als ganzes beauftragt war, die Beklagte zu vertreten. Es liegt also schon gar keine „Unterbevollmächtigung“ vor; vielmehr war die gesamte Kanzlei „Hauptbevollmächtigte“, und folglich war es auch der Anwalt, der tatsächlich für die Beklagte auftrat. Hinzu kommt, daß in der mündlichen Verhandlung sogar ein Anwalt auftrat, dem im Gefüge dieser Kanzlei eine besondere Bedeutung zukommt – der Anwalt nämlich, von dem die Kanzlei insgesamt ihren Namen ableitet (wenn man so will: der „Senior-Chef“). Die Vorstellung, daß die Beklagte mit diesem Verhalten zum Ausdruck gebracht haben soll, sie sei an einer Sachentscheidung in Wirklichkeit nicht interessiert gewesen, erscheint unter diesen Umständen nicht nur evident unhaltbar, sondern geradezu an den Haaren herbeigezogen.
Die Entscheidung enthält damit mehrere eklatante Gesetzesverstöße. Die Umstände, unter denen sie geschehen sind, lassen nur den Schluß zu, daß der Richter sich bewußt über das Gesetz hinweggesetzt hat, um sich die Arbeit einer sachlichen Prüfung des Anspruchs zu ersparen.
Wie ging es weiter? Die Anwältin des Klägers erstattete gegen den erkennenden Richter Strafanzeige wegen Rechtsbeugung. Dieses Verfahren wurde mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt (eine ebenfalls mehr als bedenkliche Entscheidung!). Vor Erlaß des Urteils war die Kammer, welcher der erkennende Richter angehörte, zu dem Ergebnis gelangt, daß eine Besorgnis der Befangenheit nicht vorliege. Diese Entscheidung wurde auf die sofortige Beschwerde der Klägerin vom OLG Frankfurt am Main aufgehoben. Das OLG hielt die Besorgnis der Befangenheit für gerechtgfertigt.